„La commode aux tiroirs de couleurs“ (2020) & „L´étrangère“ (2015)
Der Lock-down ist vorbei, aber das ist noch lange kein Grund, die Bücher wegzuräumen! Hier sind zwei Lesetipps, die Ihnen gefallen könnten…
- La commode aux tiroirs de couleurs von Olivia Ruiz
- L’étrangère von Valérie Toranian
Zwei verschiedene Autorinnen, deren Romane eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweisen. O. Ruiz, Sängerin, wurde 1980 in Carcassonne geboren, sie ist spanischer Herkunft. V. Toranian, Journalistin, wurde 1962 in Suresne geboren, sie ist armenischer Herkunft.
Thema beider Geschichten ist das bewegte Leben zweier Großmütter, Rita und Aravni, erzählt von ihren Enkeltöchtern. Ausgangspunkt ist eine historische Tragödie: Spanien unter Francos Diktatur (1939) für Rita und der Völkermord an den Armeniern (1915) für Aravni. Beide Frauen schmerzerfüllt verlassen ihr Land und leben bis zu ihrem Tod in Frankreich.
Das Exil, die Entwurzelung, die Trennung von geliebten Menschen, die Flüchtlingslager, die wirtschaftlichen und persönlichen Schwierigkeiten im Gastland, die Identität, die Muttersprache und die Sprache, die man lernen muss, das kulturelle Erbe, das man an künftige Generationen weitergeben will oder eben nicht, die Erinnerungen – das sind die schweren Koffer, die Rita und Aravni mit sich herumtragen. Sehr aktuell…
Die Geschichten sind jedoch unterschiedlich:
- Ruiz lässt ihre Großmutter ihre Lebensgeschichte anhand von Gegenständen und Briefen erzählen, die sich in der „Kommode mit den farbigen Schubladen“ befinden. Diese Kommode erbte sie nach derer Tod. Jede Schublade enthüllt einen Teil der Geschichte dieser französisch-spanischen Familie. Diese Erzählung ist aber eine Fiktion, weil es keine Übertragung der Familiengeschichte gegeben hatte: „In dieser Familie redeten wir viel, lauthals, vor allem, um uns gegenseitig nichts zu sagen.“
Es ist der Lebensweg von vier Generationen starker Frauen, von Barcelona bis Narbonne über Argelès und Toulouse. Das Leben dieser Frauen ist schwierig, aber Liebe, Zärtlichkeit, Freude und Ironie begleiten die Geschichte. Der Ton ist lebhaft und spritzig. „Du lachst Dich bestimmt tot, Abuela, von da oben aus, ich bin genauso wohlwollend und manipulativ geworden wie Du!“ sagt die Enkelin im Epilog, als sie ihren Großvater in den Händen „der extravaganten Lola“ zurückließ.
Valérie Toranian beruft sich auf Weitererzählungen von Familiengeschichten: „Arawnis Geschichte ist eine fiktionalisierte Zusammenfügung aus den Notizen, die ich bei meiner Großmutter in den letzten Jahren ihres Lebens gemacht habe.“ Die Geschichte beginnt im Juli 1915 in Amassia, Armenien, und endet 1994 mit den letzten Worten der Großmutter. V. Toranian wechselt in den Kapiteln zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Die ersten Kapitel lassen uns den grausamen Marsch der von den Türken aus ihrer Heimat vertriebenen Armenier miterleben. Die Türkei leugnet nach wie vor den Völkermord an den Armeniern.
„Diese Verleugnung der Geschichte ist eine Schlinge, die jeden Armenier daran hindert, nicht zu leben, sondern normal zu atmen.“ Amassian, Aleppo, Konstantinopel, Marseille, Alfortville, der Weg ist lang, aber die Großmutter ist eine starke Frau, die ums Überleben kämpft, und um zu leben. Sie bleibt Armenien verbunden. Als ihr Sohn Vram seinen Vornamen in Georges ändert (wie Rita im Roman von Ruiz eine Zeit lang zu Josephine wird) und eine Französin heiraten will, fühlt sie sich verraten: „Wie kann er ihr das antun? “ Sie, die so sehr gewünscht hatte, dass ihre Enkel „ihre“ Sprache sprechen.
Der Stil unterscheidet sich von dem des anderen Romans, der Ton ist nüchterner und auch dunkler. Aber das Band der Liebe zwischen Großmutter und Enkelin nimmt uns von Seite zu Seite mit, ohne jemals uns zu ermüden.
Diese Romane sind nicht ins Deutsche übersetzt.
La commode aux tiroirs de couleurs, édition JC Lattès, 2020
L´étrangère, édition J’ai lu nr 11448, 2015